: Begriff und Wesen des Völkischen. Mit einer Einleitung von Helmut Donat. Bremen 2022 : Donat Verlag, ISBN 978-3-943425-92-5 176 S. € 16,80

: Die Militarisierung der Sprache und des Volkes, Kritik der Reden Hitlers, sein Verrat an der Kunst und andere Studien zum Nationalsozialismus. Mit einem Beitrag von Helmut Donat. Bremen 2022 : Donat Verlag, ISBN 978-3-949116-14-8 376 S. € 24,80

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Reinhold Lütgemeier-Davin, Kassel

Es ist zweifellos ein verlegerisches Wagnis, ein auf zehn Bände geplantes Projekt anzustoßen, die Finanzierung zu organisieren und auch durchzusetzen, zumal es sich um Veröffentlichungen eines Autors handelt, der zu den unterschätzten, verfolgten und zu Unrecht Vergessenen gehört. Der pazifistische Agrarökonom, Soziologe, Dozent an der Berliner Humboldt-Hochschule Oskar Stillich (1872–1945) war einer jener Republikaner, der die Gefahr von Hakenkreuz und Stahlhelm für Demokratie und Frieden rechtzeitig erkannte und die zersplitterte völkische Bewegung nicht als etwas Fremdartiges deutete, das plötzlich über die Deutschen hereingebrochen sei. Schließlich warnte er 1932: „Die gegenwärtige Gefahr für Deutschland liegt nicht in der bolschewistischen, sondern in der völkischen Bewegung und dem Faschismus.“ (Bd. 3, S. 22) Ihm war bewusst, dass die Völkischen „nicht auf den Verstand, sondern auf den Instinkt“ bauten (ebd., S. 88). Umso mehr bemühte er sich, mit aufklärerischen Schriften gegen sie anzukämpfen. Er setzte dabei auf den erklecklichen Anteil jener Wahlbürger, die für Aufklärung im humanistischen Sinn ansprechbar blieben. Nach Ansicht Oskar Stillichs vertrat die völkische Bewegung schon im Kaiserreich einen „Sozialismus der Dummen“ (ebd., S. 59). Folglich erschien es ihm durchaus als erfolgversprechend, dass sich eine Mehrheit nicht von nationalistischen Phrasen verführen ließ, nicht hereinfiel auf Mystizismus, auf Überhöhung des Deutschtums, auf Idealisierung des Germanentums, auf Ausgrenzung, Diskriminierung Verfolgung Anderer.

Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unterlag Oskar Stillich einem Arbeits- und Publikationsverbot, was ihn aber nicht daran hinderte, durchaus hellsichtige Analysen über den Nationalsozialismus anzufertigen – in der Erwartung, er könne sie nach dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland herausbringen, um zumindest im Nachhinein den Deutschen die Augen über ein verbrecherisches Regime, aber auch über die Wirkungen des preußischen Militarismus und die Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Dritten Reich zu öffnen.

Als Oskar Stillich infolge jahrelanger Unterernährung bereits Ende 1945 starb, kümmerte sich sein Sohn um das Lebenswerk seines Vaters. Dem Münchner Institut für Zeitgeschichte vertraute er die Aufbewahrung und Veröffentlichung der Schriften an; dieses verschleppte und verhinderte aber eine Veröffentlichung aus vermeintlich wissenschaftlichen, aber offensichtlich politischen Gründen. Ein Mitarbeiter sorgte gar dafür, sie für längere Zeit möglichen Nutzern unzugänglich zu machen. Oskar Stillich gehört damit zu den Opfern der „zweiten Schuld“ (Ralph Giordano), deren Warnungen jene interessierten Kreise in Wissenschaft, Bürokratie und Gesellschaft treffen sollten, die selbst (Mit-)Schuld am Nationalsozialismus trugen. Insbesondere einflussreiche national-konservative Historiker beabsichtigten im Nachkriegsdeutschland zwar eine Distanzierung vom Nationalsozialismus, aber zugleich wollten sie eine Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen der beiden Weltkriege unterbinden und Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zum Dritten Reich ebenso leugnen wie die Vorherrschaft preußisch-militaristischen Denkens in Deutschland und deren Auswirkungen – ein Bestreben, das ihnen weitgehend mit der Hilfe gouvernementaler Einrichtungen gelungen ist und bis in unsere Tage hinein fortwirkt.

Der gerade in Sachen Erinnerungskultur eifrige Verleger und Historiker Helmut Donat hat sich vor wenigen Jahren zum Ziel gesetzt, aus dem umfassenden Werk Oskar Stillichs jene politischen Arbeiten aus den 1920er- bis 1940er-Jahren zu publizieren, die noch heute von Bedeutung sind. Ursprünglich geplant war eine Zusammenarbeit mit dem Wirtschafts- und Sozialhistoriker Toni Pierenkemper, dem bislang einzigen Biographen Oskar Stillichs.1 Dessen früher Tod vereitelte dies allerdings.

Erschienen sind derzeit zwei der zehn geplanten Bände; ein weiterer Band über den Versailler Vertrag im Spiegel deutscher Kriegsziele wird offensichtlich in absehbarer Zeit der interessierten Öffentlichkeit präsentiert – eine nüchterne zeitgenössische Beurteilung des Friedensvertrages im Vergleich mit den Verträgen von Brest-Litowsk und Bukarest, die erahnen ließen, was Europa bei einem von alldeutschen Wahnvorstellungen diktierten Sieg des Deutschen Kaiserreichs zu erwarten gehabt hätte. Die bisher erschienenen beiden Bände werden erschlossen durch Erläuterungen des Herausgebers, die man lesen sollte, bevor man sich den Originalschriften Stillichs widmet.

Gewiss: Stillichs Befunde sind heute nicht mehr ungewöhnlich. Ihre Wirkung blieb bei den Zeitgenossen bescheiden. Freilich, Stillichs Hauptwerk „Deutschvölkischer Katechismus“, getragen von dem aufklärerischen Vorsatz, mit einfachen, nicht vereinfachenden, nicht populistischen Mitteln im Frage-Antwort-Stil über Umfang, historische Ursprünge, Ideologie, Propaganda, Strategie der nationalistisch-völkisch-antisemitischen Bewegung zu informieren, gewährt klare Einblicke in deren vorherrschende Mentalität. Der weitere bislang erschienene Band versammelt in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur formulierte Studien über Aspekte nationalsozialistischer Strategien. Nicht so sehr die reale, offensichtliche Gewaltpolitik wird dargestellt und bewertet, sondern die Art und Weise, wie die Bevölkerung beeinflusst worden ist, zum Beispiel durch die Umdeutung zentraler Begriffe in verschiedenen Lebensbereichen, über die Appelle Hitlers an niedere Instinkte, über die religiöse Überhöhung völkischer Ideologie, über die Wurzeln und Ausformungen rassistischen, antisemitischen, völkischen Denkens. Oskar Stillich interessierte sich weniger für die Inhalte der Reden Hitlers, sondern mehr für Form und Stil. Er konzentrierte sich keineswegs nur auf die NSDAP, sondern hatte die gesamte völkische Bewegung in der Zwischenkriegszeit im Blick. Sein umfangreiches, aber kaum rezipiertes Werk lässt einen einerseits erschaudern über die Grenzen der Aufklärung, die Durchsetzungskraft des Irrationalen, der völkischen Überhöhung, der Menschenverachtung und Erniedrigung anderer Völker. Der aufklärerische Impetus verweist andererseits darauf, dass es lohnend und nötig ist bis in unsere Tage, völkische, nationalistische, inhumane Ideologien aufzudecken und sich gegen sie zu schützen – allen Widerständen zum Trotz. Oskar Stillich hat seinen unerschrockenen Kampf teuer bezahlt, mit heftigen Anfeindungen in der Weimarer Republik, die seine materielle Absicherung gefährdeten und ihn zum Verzicht auf eine akademisch glanzvolle Karriere zwangen; mit Isolation, Ächtung und körperlicher Auszehrung in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Sein aufrechter Gang als Pazifist und Republikaner sowie als Kritiker des Weges, der zu 1933, dem Zweiten Weltkrieg und zu Auschwitz führte, wird von Helmut Donat ebenso in Erinnerung gerufen wie durch den Reprint wesentlicher Studien seine Verdienste als produktiver politischer Fachautor. Es ist zu wünschen, dass seine Analysen nun mehr Beachtung finden. Sie verweisen darauf, dass deutschvölkisches Denken nicht an die Zeit des Dritten Reiches gebunden war, sondern vor 1933 sowie nach 1945 verbreitet gewesen ist und bis in unsere Tage hineinreicht.

Anmerkung:
1 Toni Pierenkemper, Oskar Stillich (1872–1945). Agrarökonom, Volkswirt, Soziologe (= Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, Bd. 42), Marburg 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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